Buchkritik | Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2023

Herzzerreißend und unverschämt gut: Debütroman „Vatermal“ von Necati Öziri

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AUTOR/IN
Eva Marburg

Der bekannte Berliner Theaterautor Necati Öziri hat ein Romandebüt geschrieben, das auf jeder Seite vor Schönheit funkelt. Ein sterbender Sohn schreibt an seinen unbekannten Vater. Dieser verließ die Familie, bevor der Erzähler geboren wurde. Es geht um das Finden der eigenen Identität trotz väterlicher Leerstelle und um das Leben in Deutschland in der dritten Generation türkischer Einwanderer.

Das Buch steht auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2023

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Literaturpreis Die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2023: Eine Art Schadensbegrenzung

Die Jury des deutschen Buchpreises hat sechs Titel auf die Shortlist des deutschen Buchpreises gewählt. Hochgelobte Werke renommierter Autorinnen und Autoren fehlen. Die engere Auswahl wirkt wie die Fortsetzung eigensinniger Jury-Entscheidungen, findet SWR2 Literaturredakteur Carsten Otte.

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Ein Sterbender schreibt seinem Vater

Es beginnt mit der Ankündigung des eigenen Todes. Der Literaturstudent Arda Kaya liegt mit Organversagen auf der Intensivstation und schreibt seinem Vater, den er nie kennengelernt hat. 

Ein Vorgang wie eine Art verfrühte Heimsuchung, das wird gleich auf den ersten Seiten eindringlich klar: hier wendet sich ein sterbender Sohn mit seiner Geschichte an eine Leerstelle, an den unbekannten Vater, der die Familie verließ, als er, Arda, noch im Bauch seiner Mutter war. 

„Du sollst wissen, wer ich gewesen bin. Damit du niemals die Erleichterung fühlst, von der ich so oft heimlich träumte: von einem Toten angeschwiegen zu werden. Ich möchte dir für immer die Möglichkeit nehmen, nicht zu wissen, wer ich war. Ich werde von mir erzählen, aber ich werde permanent lügen. Nichts stimmt, und doch ist jedes Wort wahr.“

Im Ton voller Verwundbarkeit und Trauer

Arda schreibt, wie er sagt, um nicht den Verstand zu verlieren, aber er schreibt natürlich auch um sein Leben. Das ist die Fallhöhe, mit der der Roman „Vatermal“ von Necati Öziri einsetzt und damit einen Ton anstimmt, der die gesamte Geschichte durchzieht.

Ein Ton so voll von Verwundbarkeit und Trauer, dass er einen überhaupt nicht mehr loslässt.   

Konflikte und Schicksalsschläge der Familie

Aus eigenen Erinnerungen, Stimmen und Erzählungen der Mutter und der größeren Schwester erschreibt sich Arda also ein Leben, eine Identität. Er erzählt von der Kindheit mit der alleinerziehenden, überforderten Mutter Ümran, von den Konflikten mit ihrer Tochter Aylin, die auch irgendwann verschwindet und in einer Pflegefamilie landet.

Arda erzählt von den Eltern seiner Mutter, die in einem schweren Erdbeben in der Türkei alles verloren und dann nach Deutschland gingen. Erzählt von der unerfüllten Liebe Ümrans zu einem Mann, der nicht sein Vater ist.

Wut auf den Vater, Wut auf Deutschland

Doch was die Abwesenheit von Vätern hinterlässt, wird zur wiederkehrenden Frage: 

„Ihr wart beides, weg und trotzdem da. Und deshalb hätten wir euch doch gebraucht. Aber anders. Damit ihr uns vorlebt, wie man mit der Gewalt, die in einem schlummert, umgeht, wie man Wut in Taktik verwandelt, wie man sich nicht schämt für seine behaarten Finger, wie man später seinem Kind ein Vater wird.“

Und dann erklingt in dem Roman aber noch dieser Sound: „Es ist Zeit, mach ein Kreuz in deinem Kalender, denn ich bin bereit, die Welt zu verändern, wie der elfte September…“.

Schlange stehen für die Bürokratie

Die Passagen über Ardas Jugendzeit mit seinen Freunden sind nämlich auch ein Porträt über Deutschland – und die emotionale Kraft, die es erfordert, um der Kälte hier zu widerstehen. Das Land scheint so menschlich wie das Wort „Aufenthaltsgenehmigung“, für die man jahrelang im Ausländeramt ausharren muss, ganz zu schweigen von einem deutschen Pass: 

Ich glaube, nichts auf der Welt ist meiner Familie so deutlich ins Gesicht geschrieben, wie die geraubte Zeit, die vielen gestohlenen Tage und Stunden, die wir auf irgendwelchen Ämtern verbrachten und die hier noch nicht mal endeten.“

Herzzerreißend und unverschämt gut

Doch daraus erwächst auch Widerstand. Arda findet, entgegen aller Wahrscheinlichkeit, in seinem gewebten Teppich der oft trügerischen Erinnerungen und Identitäten, einen Faden, der dann doch sein eigenes Leben ist.  

„Wenn es eine Sache gibt, die ich begriffen habe, dann, dass wir alle nur beschissene Gastarbeiter sind, und das Einzige, was du tun kannst, ist, aufzustehen und das Leben suchen, solange du noch kannst.“

„Vatermal“ von Necati Öziri ist unverschämt gut geschrieben, schmerzhaft und herzzerreißend, manchmal rasend komisch, umwerfend in seiner Zärtlichkeit und Selbstbehauptung. Ein Romandebüt, das auf jeder Seite vor Schönheit funkelt.

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Eva Marburg